Freitag, 14. Oktober 2016

Hier blüht das farbige Leben.

„Urväterhort.“
   Der verdiente Verlag von Martin Oldenbourg in Berlin, der mit besonderer Liebe das nationale Prachtwerk in seine Pflege genommen hat, läßt seinem vor einigen Jahren besprochenen Werk über die Götterwelt der Germanen ein wertvolles Seitenstück folgen, das den Titel trägt: „Urväterhort." Handelte es sich damals um die Kenntnis des germanischen Götterlebens in Bild und Wort, so gilt es hier, die Heldengesänge der Deutschen und ihrer germanischen Stammverwandten auf ihre irdischen Heroen aufzuzeichnen. Das Werk umspannt den ganzen Umkreis des germanischen Gebietes, den Süden wie den Norden; die altvertrauten Mären von Siegfried, Gudrun und Hildebrand erscheinen, daneben auch die weniger bekannten Erzählungen der Dänen. In gedrungener Sprache wird der Sageninhalt der heidnischen Vorzeit selbständig nacherzählt. Bei dem Wort Sage denken wir modernen Menschen leicht an Unglaubwürdiges. Die alten Sänger aber ebenso wie ihre lauschenden Hörer, die sie auf ihren Wanderfahrten um sich sammelten, glaubten an ihre Helden. Die großen Namen aus der Werdezeit der Völker leuchten in diesen Sagen nach im Gewände der Mythe. Diese altgermanische Welt mit ihren Leidenschaften empfängt hier ein erhöhtes Abbild. Es ist eine Welt in Waffen, der die gebrochenen Töne der schwächeren Abkömmlinge völlig fehlen; ihre Größe besteht darin, daß um geringeres als das Leben überhaupt nicht gespielt wird. Der Held erfährt seinen heroischen Augenblick, wenn er in eine Lebenslage gesetzt wird, wo in Jubel oder Trotz oder klarem Siegesbewußtsein, in Frevel oder innerem Kampfe seine Heldenart gewaltig ans Licht tritt. Den Gipfel der Erzählung, in der die Schwerter rasseln und das Blut strömt, bildet nicht selten eine bedeutsame Rede des Helden oder der Heldin; in diesen Reden kommt die heroische Dichtung auf ihren Höhepunkt. Die hinreißende Leidenschaft, die dramatische Rundung und die zwingende Größe des Umrisses reihen diese prachtvoll gefügten Fabeln, bei sparsamen äußeren Mitteln, ebenbürtig neben die glänzenden Produkte der griechischen Heldensage, die ihnen in der Form ja weit überlegen sind. Professor Dr. A. Heusler, eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung der germanischen Volkskunde, hat den Text des neuen Bildwerkes in sehr anziehender Weise verfaßt. Der Anschluß an die Quellen ist ebenso treu wie ihre Eindeutschung klar und die Selbständigkeit in Bezug auf Einzelheiten der Auffassung verständlich. Die Art des Liedes, des deutschen Epos, der isländischen Sage und des Chronistenauszugs hat er feinfühlig individualisiert, wenn auch die Wiedergabe in Prosa, die sich nicht zu viele Anleihen bei der poetischen und altertümlichen Sprache gestatten darf, jene Nuancen der Dichtkunst notwendig etwas abschwächen mußte. In 50 Originalbildern hat Professor Max Koch diese Sagenstoffe zu farbigem Leben aufgeweckt. Die kriegerischen Ideale des Germanenvolkes finden hier ihren sinnenfälligen künstlerischen Ausdruck. Der Maler aber muß diesmal einen nicht unerheblichen Teil des auf ihn fallenden Lobes an seinen Verleger abgeben. Denn die chromotypographische Reproduktion des Werkes, eine Arbeit der Firma W. Büxenstein, ist hohen Lobes würdig. Die künstlerische Sorgfalt des Malers und des Verlages erstreckt sich auch auf Titel, Einband und Vorsatzpapier. Ein schönes Geschenk für die reifende Jugend! Das ist einmal etwas gründlich anderes als die trockenen Geschichtsbücher! Hier blüht das farbige Leben, und eisgraue Vergangenheit wird zur schimmernden Gegenwart.
Anonyme Buchbesprechung in: Berliner Tageblatt, 33. Jg., Nr. 624, 8. Dezember 1904, Morgen-Ausgabe, S. 2.

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